Donnerstag, 3. Mai 2012

Die Pathologie des 21. Jahrhunderts I

von Miriam Pierra

Größer, besser, schneller, mehr! Längst haben wir uns ihm wohlwollend unterworfen - dem gesteigerten Komparativ. Er ist es, der unsere Gesellschaft, unsere Arbeitswelt, ja sogar unsere intimsten Beziehungen dominiert. Ein eintöniger, dafür gesicherter Arbeitsplatz? Für viele unter uns (inklusive meiner Wenigkeit) heutzutage ein Gräuel! Eine langfristige Beziehung; sich für die eine Person aufsparen? Ja, aber all die vielen Möglichkeiten, die man so verpassen könnte..!
Wir leben in einer Optionsgesellschaft. An jeder Straßenecke blinken grelle Leuchtreklamen, in unseren Wohnzimmern flimmern Werbespots über den Bildschirm; sie alle verheißen uns das große Glück – solange wir nur unzufrieden sind und bleiben mit dem, was wir denn haben.

Nun gut, dass unsere Gesellschaft hinsichtlich unserer Fähigkeit dankbar und zufrieden zu sein verkommt, das ist ja längst nichts neues mehr. Sozialwissenschafter untersuchen diesen Verfall schon seit Jahrzehnten. Ein Aspekt, der mir allerdings neu vorkommt (der allerdings nur der vorherrschenden Steigerungssystematik gerecht wird), ist die zunehmende Hochstilisierung von banalen Problemen zu Krankheitsbildern. Du fühlst dich eigentlich ganz wohl in deiner Haut? Nicht mehr lange, wenn es nach den Hobbypsychologen von heute (Stichwort: Dr. Internet) geht. Krank, kränker, willkommen im 21. Jahrhundert!

Eigentlich wollte ich anfangs ja nur (meinen Wiener Wurzeln entsprechend) ein bisschen über einen Artikel, auf den ich vor kurzem im Internet gestoßen bin, raunzen. Allerdings bin ich nach etwas Recherche auf eine solche Fülle von Themen gestoßen, die alle auf eine Problematik der Pathologie des 21. Jahrhunderts hinweisen. Aus diesem Grund (und weil ich euch keine solche Wurst an Textmonster zumuten möchte) habe ich mich entschlossen, das schillernde Spektrum dieser mehr oder weniger schrecklichen Krankheiten, unter denen die Menschheit von heute so leidet, in mehreren Teilen vorzustellen.

Es handelt sich dabei um eine Streitschrift für die gute alte Wurschtigkeit. Ich plädiere hiermit für einen weniger aufgeregten Umgang mit den mal größeren, mal kleineren, jedoch immer ganz normalen und menschlichen Problemen unserer schnelllebigen Welt. Ich möchte eine Lanze brechen für den makelhaften Menschen!

Der Aufbau dieser kleinen Serie ist ein chronologischer und beginnt dementsprechend bei den Kleinsten (aber doch genügend Großen, um ihnen eine seelische Störung anzudichten): im Klassenzimmer.

1. Teil: Der Klassenclown als Krankheitsbild

Das erste mal, dass ich stutzig geworden bin, war, als ich mich im Rahmen meines Studiums mit dem Phänomen „Infotainment“ auseinander gesetzt hatte. Diese nette Wortschöpfung des verstorbenen Medienkritikers Neil Postman (aus seinem Buch „Wir amüsieren uns zu Tode“ – eine kleine Leseempfehlung an dieser Stelle) bezeichnet eine Art Verschmelzung von Factional- und Fictional-TV, also Information + Entertainment. Mit solchen Inhalten, die durch verschiedene Inszenierungsstrategien unterhaltsam aufbereitet werden, sind wir alle schon mal in Kontakt gekommen bzw. tun wir das ständig. Sie sind auch wesentlich leichter zu verdauen und wir merken sie uns teilweise sogar besser („Woher weißt du das?“ - „Hab ich in Galileo gesehen!“).

Die Downsides dieser Ausgeburt unserer entertainisierten Gesellschaft zeigen sich jedoch beispielsweise besonders in amerikanischen Klassenzimmern (aber auch sonst überall, wo man die Augen aufmacht). Denn besonders für junge Menschen ist es oft schwer zu begreifen, dass sich die spannende Hintergrundmusik und die actionreichen Schnitte nicht einfach so auf die Realität umlegen lassen. Eltern / Lehrer / Ärzte stehen nun wie die Kuh vorm neuen Tor und wollen einfach nicht verstehen, weshalb ihre Kinder / Schüler / potentiellen Provisionspatienten sich partout nicht auf den Unterricht konzentrieren können oder wollen. Die Tatsache, dass viele Kinder und Jugendliche heutzutage mehr Zeit vor der Flimmerkiste als sonst wo verbringen, kommt ihnen dabei nicht in den Sinn. Dort wird man nun aber andauernd mit unnatürlich dynamisch und emotional aufbereiteter Information regelrecht bombardiert, was gerade über den unkritischen Konsum von Kindern dazu führen kann, dass der alltägliche Schulunterricht als (noch) langweilig(er) wahrgenommen wird. Spielt man nun also den Klassenclown, um die gefühlte Eintönigkeit zu durchbrechen, oder schweift der Blick ein Mal zu oft aus dem Fenster, wird man schnell zum Fall für den Doktor. Diagnose: Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS).

Mittlerweile „leiden“ weltweit über 20 Millionen (!) Kinder und Jugendliche an dieser „furchtbaren“ Krankheit (siehe Link 1), die es ohnehin schon überforderten Eltern noch schwerer macht, ihre (per definitionem) „zappeligen, impulsiv handelnden, unorganisierten und leicht ablenkbaren“ (siehe Link 2) Kinder zu kontrollieren. Man könnte es auch schlicht juveniles Kind-Sein nennen – nur lässt sich damit so schlecht Kohle machen.

Das ADHS-Forschungszentrum in Middlebourg, Holland veröffentlichte bereits 2002 eine Studie, der zufolge bei über 60 % der Kinder, denen ADHS attestiert wurde, die alleinige Umstellung der Ernährung bereits eine Verbesserung des Zustands bewirken würde (siehe Link 1). (Als bekennende Schokoholikerin kann ich an dieser Stelle leider nicht auch noch auf die allgemein bekannte katastrophale Esskultur der meisten westlichen Länder und Wohlfahrtsgesellschaften eingehen.) Doch stattdessen, werden Kindern teure und für deren Organsimus oft schwere Medikamente, wie etwa Ritalin, verabreicht. Deren Wirkung ist die, dass man für Eindrücke von außen weniger empfänglich wird und sich somit besser konzentrieren kann. Für diese Wunderpillen lassen sich übrigens (teilweise heimlich) Provisionen für die verschreibenden Ärzte veranschlagen. Somit verdienen diese, vor allem aber die produzierenden Pharmafirmen, sich also lieber weiterhin goldene Nasen an von Pillen und Pulvern abgestumpften Kinderseelen. Der wirtschaftliche Outsourcing-Trend hält nun also auch Einzug in die Kinderzimmer: Die Erziehung des eigenen Nachwuchs wird den großen Konzernen der Pharmaindustrie anvertraut. Klingt komisch – ist aber so!
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1 http://www.gesundheitlicheaufklaerung.de/fakten-uber-adhs
2 https://www.kindermitadhs.eu

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